16. Januar 2016

Rezension zu "The Kingdom of Little Wounds" von Susann Cokal



Ich bin baff.
Ich habe aus zwei Gründen Angst, diese Rezension komplett zu verhauen: erstens, weil ich seit über einem Jahr keine mehr geschrieben habe, und zweitens, weil es über "The Kingdom of Little Wounds" (das ich im weiteren Verlauf der Einfachheit halber TKoLW nennen werde) eine Menge zu sagen gibt. Eine große Menge.
TKoLW spielt im sechzehnten Jahrhundert in der fiktiven skandinavischen Stadt Skyggehavn. Die königliche Familie der Stadt, die Lunedies, leidet an einer Vielzahl von Gebrechen, die von Medizinern und dem Volk unter dem Namen Morbus Lunediernus zusammengefasst werden und als deren Ursache Unglück, Magie oder auch Gift vermutet werden. Der Königin, Isabel, wird nachgesagt, dank dieser Krankheit nicht mehr alle Tassen im Schrank zu haben, und König Christian erntet für seine Staatsführung von allen Seiten Kritik. Die Geschichte beginnt mit einem schockierenden Ereignis: Die Kronprinzessin Sophia stirbt in ihrer Hochzeitsnacht an Morbus Lunediernus, was für die Königsfamilie noch mehr Leid bedeutet. Währenddessen wird Näherin Ava Bingen ins Gefängnis geworfen, als sie die Königin Isabel beim Versuch, ihr Kleid zu nähen, mit der Nadel sticht. Damit beginnt eine Reihe schicksalhafter Wendungen. Und nicht nur das, denn es scheint auch noch Magie am Werk zu sein...

TKoLW hat mir sehr gefallen. Es ist ein Buch, auf das man sich einlassen muss. Es ist sicher nicht für jeden etwas (die Gründe dafür erkläre ich später genauer). Es ist weniger ein Fantasybuch als vielmehr ein historischer Roman in einem fiktiven Rahmen. Man merkt dem Buch die detaillierte Recherche an, die die Autorin im Nachwort beschreibt. Es gibt keine schnellen Actionszenen, ABER. Ich habe mich während des Lesens nicht einmal gelangweilt. Die Spannung in TKoLW ist subtil, sie reibt an den Nerven wie Schmirgelpapier und löst sich oft auf eine Art, die mir das ein oder andere Mal fast den Magen umgedreht hat. Man erfährt viel über das Leben der Menschen um 1572. Das Buch ist so geschrieben, dass sich zwar ein paar Hauptpersonen abzeichnen, aber es gibt unendlich viele Charaktere, die als Erzähler zu Wort kommen. So ergibt sich beim Lesen langsam das Bild einer Maschinerie, in der selbst der kleinste Nebencharakter ein Zahnrad im Getriebe ist. Das kann verwirren, aber es macht das Ganze auch sehr interessant und sorgt dafür, dass man als Leser am Ende ein großes, detailliertes Bild vor Augen hat.

Auf einige der Perspektiven, die man als Leser auf die Geschichte bekommt, will ich hier genauer eingehen. Es gibt im Buch zwei Ich-Erzählerinnen, die jeweils in der Gegenwart erzählen. Eine davon ist Ava Bingen. Sie hat einiges hinter sich: Sie und ihr Vater haben als einzige Mitglieder ihrer Familie eine Seuche überlebt. Sie hat eine Fehlgeburt überstanden, nach der sie eine Zeit lang das Gespött der Leute war. Zu Beginn der Geschichte ist sie Näherin am königlichen Hof, doch das hat ein Ende, als sie die Königin aus Versehen mit der Nadel sticht, während sie versucht, deren Kleid zu reparieren. Ava wirkt zunächst wie eine sehr naive Person, doch im Verlauf der Geschichte wird mehr und mehr klar, dass das nur ihre Art ist, mit Geschehnissen klarzukommen, die in der heutigen Welt völlig undenkbar sind. Sie hofft auf ein Happy End, glaubt aber auch nicht so wirklich daran.
Die andere Ich-Erzählerin ist die Sklavin Midi Sorte, eine Magd, die sich um die Prinzessinnen von Skyggehavn kümmert. Die Dinge, die Ava geschehen, verblassen im Vergleich zu Midis Geschichte teilweise sogar noch. Sie wurde gekidnappt, als Sklave verkauft, ist auf einem Schiff nach Skyggehavn gebracht worden. Dort wurde ihre Zunge gespalten, damit sie nicht mehr sprechen kann. Auf einer Feier des königlichen Hofes musste sie, mit nichts als Zuckerkristallen bedeckt, als Dekoration herhalten. Sie lebt mit dem permanenten Misstrauen, das ihr wegen ihrer dunklen Hautfarbe entgegengebracht wird, und wird deswegen als Hexe bezeichnet. 
Königin Isabel hat einige Kapitel in der dritten Person, ebenso wie ihr Ehemann König Christian und einige ihrer Töchter. Es gibt auch Kapitel in einem allwissenden Erzählstil, in denen Ereignisse am Hof beschrieben werden. Über das Verhalten der Charaktere kann man sich aufregen. Immer wieder. Sie verraten einander, vertrauen sich nicht und tun sich Gemeinheiten aller Art an; vor allem in der Art, wie Ava und Midi einander begegnen, wird das sehr deutlich. Aber ich fand es eben auch verständlich. Wenn die eigene Existenz jeden Tag bedroht wird, kann man wahrscheinlich nicht unbedingt fröhlich und nett bleiben. Die Charaktere stürzen einander immer wieder ins Unglück und schmieden Intrigen gegeneinander, und das trägt sehr zur Spannung des Buches bei.

Ein wichtiger Aspekt in TKoLW sind Märchen und die Tatsache, dass nach dem Happy End nicht immer auch die Geschichte endet. Die Geschichte ist im Rahmen eines Märchens geschrieben, das einigen Prinzessinnen erzählt wird. Auch in der Geschichte selbst finden sich immer wieder Hinweise darauf; Ava vergleicht ihre Situation oft mit Figuren aus Märchen und versucht, darin Rat für ihr eigenes Handeln zu finden. Kurze Märchen, die über ein oder zwei Seiten gehen, finden sich an verschiedenen Stellen im Buch. Das sind keine Geschichten wie Dornröschen oder Aschenputtel; sie haben nicht immer ein Happy End und sind meist düster.
Das Englisch des Buches ist eher schwer. Es wirkt so, als hätte die Autorin versucht, es irgendwie älter klingen zu lassen, damit es zu der Zeit passt, in der die Geschichte spielt. Das ist ihr gelungen, aber die Sätze sind oft verschachtelt und die Satzstellung weicht manchmal ein bisschen vom modernen Englisch ab. Nach ein paar Kapiteln (die meistens eher kurz sind), war ich daran gewöhnt; gestört hat es mich nicht wirklich. Für Leser, die bisher wenig auf Englisch gelesen haben, könnte es aber nervig sein. Das Buch hat über 550 Seiten, die mir aber bei der Vielzahl an Informationen und Ereignissen nie zu viel wurden.

Wie ich bereits sagte, ich mochte das Buch. Sehr. Aber ich glaube, man muss entweder Interesse für eine solche Geschichte haben und/oder eine Menge Toleranz und/oder man ist komisch (okay, das letzte ist witzig gemeint). In TKoLW geht es nicht nur um die guten Seiten des Lebens. Die Geschichte attackiert den Leser auf brutale Art mit der Lebenswirklichkeit der Personen aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten im sechzehnten Jahrhundert. Königin Isabel wird zum Beispiel vor allem gebraucht, um dem König einen Erben , vorzugsweise männlich, zu schenken. In einem Kapitel bekommt man ein sehr detailliertes Bild davon, wie Gynekologie im sechzehnten Jahrhundert bei Königinnen vorgenommen wurde. Überhaupt kommen in dem Buch eine Menge medizinische Details vor; bei einigen davon kann man heute nur noch den Kopf schütteln und hoffen, dass man den letzten gelesenen Satz ganz schnell vergisst. Morbus Lunediernus ist zum Großteil das, was heute als Syphilis bekannt ist, und in der Hinsicht gibt es einige sehr detaillierte Beschreibungen. Beispiel gefällig? Geschwollene Stellen werden mit (explodierenden) Ketten aus Eiterbeulen verglichen. 
Abgesehen davon gibt es weitere Gründe, weshalb ich TKoLW weder jüngeren Personen noch Lesern mit einem schwachen Magen oder empfindlicher Moral empfehlen würde. Ich will niemanden spoilern, aber es gibt ein paar Dinge, die man wirklich nur lesen sollte, wenn das Interesse an Geschichte und historischer Genauigkeit den Ekel vor Details überwiegt. Das Buch lässt sich in einigen Aspekten mit Game of Thrones vergleichen. MANCHMAL IST ES ABER NOCH VIEL SCHLIMMER. Es gibt detaillierte Beschreibungen von Fehlgeburten, Wunden, sexuellem Missbrauch, der Behandlung von niedriggestellten Dienern und Leuten, die anders aussehen, pathologische Untersuchungen von menschlichen Innereien und Körperflüssigkeiten, medizinische Behandlungen mit fragwürdigen Substanzen, Vergiftungen, seltsame Dinge, Aberglaube an Geister, Magie und Hexen... Auch einige der gesellschaftlichen Gegebenheiten regen teilweise zum Würgen an. Kronprinzessin Sophia etwa ist zwölf, als sie zu Beginn des Buches mit einem etwa dreimal so alten Mann verheiratet wird.

Jetzt fragt ihr euch vielleicht, wieso ich das Buch trotzdem mochte. Vielleicht haltet ihr mich für durchgeknallt (oder Schlimmeres). Aber ich fand TKoLW vor allem gut, weil nichts verschönert wurde. Ich interessiere mich selbst sehr für Geschichte und habe ein Problem damit, wenn die hässlichen Stellen weggelassen werden, da so ein falsches Gesamtbild geschaffen wird. So sehr man beim Lesen manchen der Charaktere für ihr Verhalten eine runterhauen möchte, muss man doch im Hinterkopf behalten, das manche Dinge vor fünfhundert Jahren schlicht und einfach als normal galten. Klar ist eine Bahandlung mit Quecksilber nichts Gutes, aber für die Menschen damals war sie ebenso normal wie für uns die Behandlung mit Antibiotika. Dasselbe muss man sich zum Beispiel in Erinnerung rufen, wenn die königlichen Astronomen glauben, aus den Sternen Geschlecht und Schicksal eines ungeborenen Kindes herauslesen zu können. Wer Wert auf historische Genauigkeit legt und dafür auch die Schattenseiten verkraften kann, dem empfehle ich dieses Buch sehr. Wer jetzt neugierig ist, aber auf irgendetwas von den Dingen, die ich oben aufgezählt habe, eher empfindlich reagiert... dem empfehle ich das Buch trotzdem. Vielleicht nicht jetzt, aber irgendwann mal. Wer Probleme mit allzu detaillierten Beschreibungen und langsamen, komplexen Geschichten hat, für den ist das Buch vielleicht nicht unbedingt etwas. Trotzdem lege ich "The Kingdom of Little Wounds" jedem nahe, der sich bei der Besichtigung eines spätmittelalterlichen Schlosses vielleicht schon mal gefragt hat, wie es den Leuten so ergangen sein mag und sich für das Leben der Menschen und die Lebensumstände der damaligen Zeit interessiert.




 

3 Kommentare:

  1. Hab mich gerade voll gefreut, den Post auf meine Dashboard zu sehen! :D
    Das Buch hatte ich bereits auf meiner Merkliste stehen, allerdings dachte ich, die Geschichte schlage in eine vollkommen andere Richtung; ohne die realistischen Züge, eher so eine Art düsterer Abenteuerroman an königlichem Hofe. Nach deiner informativen Rezension interessiert mich das Buch sehr viel mehr, hört sich alles andere als 0815 an!
    Also ich finde es nicht komisch, wenn du sagst, dass dir das Buch gefällt! Dieses Dilemma kenne ich nur zu gut. Bei Geschichten, die sich um Themen wie z.B. Sklaverei, sexuellen Missbrauch etc. drehen, sträubt man sich immer ein bisschen den Begriff "mögen" zu verwenden. Aber im Grunde mag man, den Versuch des Schriftstellers (und die Umsetzung davon) diese wichtigen Thematiken an den Leser zu bringen und diese auf Probleme aufmerksam zu machen.
    Hoffe, man hört/liest wieder öfter von dir! :)

    Liebe Grüße,
    Bramble

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    1. Sowas habe ich am Anfang auch eher erwartet... und ich bin im Nachhinein sehr froh, dass es nicht so gekommen ist, da es wegen dem Realistisch-Historischen wirklich mal was anderes ist als viele Bücher mit fantastischen Elementen (nicht, dass die alle schlecht wären!).

      Genau das fand ich an dem Buch gut (du verstehst mich! JUHU! :D). Ich fand es gut, wie die Autorin mit den Problemen und den Konsequenzen umgegangen ist und diese zu einem Teil der Geschichte gemacht hat, statt sie nebenbei geschehen zu lassen oder nur am Rande zu erwähnen (das ist etwas, was mich an Büchern, die sich stärker auf das Fantastische konzentrieren, oft stört).

      Ich hoffe auch, wieder etwas mehr Zeit für den Blog zu finden... ich habe beim Schreiben dieser Rezension gemerkt, dass es mir doch ziemlich gefehlt hat.

      Danke und liebe Grüße zurück :)

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  2. Ebenso wie Bramble habe ich mich gerade sehr gefreut, endlich wieder Posts von dir auf meinem Dashboard zu sehen! *-* Ich hoffe, dass du deinen Weg zurück ins Bloggeruniversum findest, ich habe deine Posts vermisst. :)

    Das Buch kannte ich vorher nicht, aber du machst mich neugierig.
    Zum Einen, weil auch ich an Geschichte interessiert bin. Und auch ich "mag" es, wenn unangenehme Details nicht verschont werden, im Gegensatz, ich finde diesen authentische Einblick interessant.
    Zudem ist die äußere Gestaltung soweit ich das deinen Fotos entnehme wunderschön. *o*
    Das Einzige, was mich noch ein wenig abschreckt, ist die Tatsache, dass ich noch relativ ungeübt im Lesen auf Englisch bin - aber ich werde es mir auf jeden Fall vormerken.

    Ganz liebe Grüße ♥

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